Tweety – Ein Kanarienvogel auf Abwegen

Eine Rettungsaktion aus Sicht des Schulhausmeisters Mirco Kossmann

„Vogel“ und „Bus“- die beiden einzigen Gebärden, die ich verstand, als drei aufgebrachte Schüler/innen kurz vor den Sommerferien, pünktlich zur Abholzeit durch die Schulbusse, vor mir standen und wild durcheinander gebärdeten und riefen. „Oh nein, nicht schon wieder so ein traumatisierendes Erlebnis wie mit der abgestürzten Taube heute Vormittag vor der Sporthalle“, dachte ich und wollte mir schon eine Schaufel greifen.

 

Draußen auf der Busspur erwartete mich aber ein völlig anderes Bild: Die Busse hatten eine lange Schlange gebildet und konnten nicht abfahren, weil vor dem ersten Bus ein quietschgelber Kanarienvogel saß, und genüsslich Brotkrümel aufpickte, die einer der Busfahrer ihm bereits hingestreut hatte. Näherte man sich dem Vogel, hüpfte er schnell unter das Auto. An Abfahrt war hier nicht zu denken. Also schnell zwei Kartons geholt. Einen großen, unter dem wir, begleitet vom lauten Gejohle der umstehenden Kinder und Busfahrer, den kleinen Kerl einfingen, und einen kleinen durchlöcherten Maskenkarton (Bild 1), in dem er dann transportiert werden konnte. Busfahrer Marko erklärte sich spontan bereit, ihn mit zu sich nach Hause zu nehmen. Dort bastelte er gleich einen Vogelkäfig (Bild 2) aus Karton und Folie, in dem der Kanarienvogel sich so wohl fühlte, dass er am nächsten Morgen zu singen anfing.

Markos Freundin ging am gleichen Tag in den Zooladen, um für Tweety, so hieß der Vogel seit dieser ersten Gesangsvorstellung, Futter zu besorgen. Im Zooladen erzählte sie Tweetys Geschichte. Einer älteren Dame gefiel die Geschichte so gut, dass sie nur kurze Zeit später zurückkam und einen großen Käfig (Bild 3) für Tweety mitbrachte. Sie hatte früher selbst Kanarienvögel gehalten und den Käfig noch aufbewahrt. Nun hatte Tweety sogar ein schönes Zuhause und leckeres Futter.

 

Währenddessen hängte ich in der Umgebung der Schule Zettel auf in der Hoffnung, so vielleicht Tweetys Besitzer zu finden: „Kanarienvogel zugeflogen“ Denn eines war klar: Marko würde den Vogel leider nicht behalten können. Tagelang gab es keine Antwort. Doch am Wochenende rief eine Frau aus Lurup an und sagte, Tweety könne durchaus ihr gehören. Einer ihrer 22 (!) Kanarienvögel sei schon Anfang Mai entflogen.

Schnell wurde für die kommende Woche eine Übergabe verabredet. Und das wurde auch Zeit, denn je länger Tweety bei Marko war, umso wohler fühlte er sich, was er durch immer lauteres und häufigeres Singen ausdrückte. So laut und schön, dass sich der Hund bellend in der hintersten Ecke der Wohnung versteckte. Ich hielt das für etwas übertrieben. So ein kleiner Vogel… so schlimm konnte das doch nicht sein. Für Dienstagnachmittag war die Übergabe verabredet und Marko hatte mich gebeten, vormittags auf Tweety aufzupassen. Also verbrachte er den Tag in meinem Büro (Bild 4). Kaum hatte er sich an die neue Umgebung gewöhnt, fing er auch an zu singen. Erst vorsichtig und zaghaft. Dann schon etwas lauter. Beeindruckend, wie viele verschiedene Töne Kanarienvögel singen können. Innerhalb kürzester Zeit wurde der Gesang allerdings so laut, dass Frau Metzendorf ihn klar und deutlich in ihrem weit entfernten Büro hören konnte, obwohl meine und ihre Tür geschlossen waren. Je länger Tweety in meinem Büro war, desto besser konnte ich verstehen, dass niemand diesen Vogel dauerhaft in seiner Wohnung behalten kann. So einen Schreihals hatte ich bisher noch nie erlebt. Der hörte gar nicht mehr auf.

Am Nachmittag fand dann die Übergabe statt: Wie sich herausstellte, gehörte Tweety gar nicht der Frau aus Lurup. Allerdings sagte sie, dass es nun auf einen Piepser mehr oder weniger auch nicht mehr ankäme, und so durfte Tweety bei ihr einziehen.

Jetzt lebt er in Lurup mit 21 Kanarienvogelkumpels in einer riesigen Volière (Bild 5) und darf von morgens bis abends nach Herzenslust singen und schreien und geht damit höchstens den Nachbarn oder seinen Kumpels auf die Nerven (Bild 6).

 

Ende gut – alles gut!

Fotos: privat