Die einen können es eher, die anderen weniger: Sich in andere Menschen hineinzuversetzen, ihre Wünsche, Annahmen, Gefühle und Absichten zu erkennen und zu deuten. Für das menschliche Zusammenleben ist diese sozial-kognitive Fähigkeit unerlässlich; wer sie nicht in ausreichendem Maße entwickelt, verhält sich sozial ungewöhnlich („ist seltsam“, „nicht empathisch“) und riskiert, ausgegrenzt zu werden.
Die Entwicklungspsychologie bezeichnet diese wichtige Kompetenz als Theory of Mind (ToM) und beschreibt die Stufen ihrer Entwicklung bei Kindern. Einen bedeutsamen Teil der ToM bildet das sogenannte Emotionswissen (EW), das im Alter zwischen drei und acht Jahren erworben wird. Über insgesamt neun Stufen lernen Kinder, ihre eigenen Emotionen und die anderer Menschen zu erkennen und zu benennen. Sie können dann Gefühle mit Ursachen in Verbindung bringen und erfahren, wie man Emotionen bei sich und anderen verändert. Der Erwerb von Enotionswissen ist eng mit dem kindlichen Spracherwerb verknüpft. Welche Auswirkungen hat dies für Kinder mit einer Hörbeeinträchtigung und der zwangsläufig damit verbundenen verzögerten Sprachentwicklung?
Mit dieser Frage beschäftigt sich Prof. Dr. Claudia Becker an der Berliner Humboldt-Universität seit vielen Jahren. In einem mit Spannung erwarteten Gastvortrag, zu dem die beiden Fachverbände für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik (BDH + DFGS) via ZOOM eingeladen hatten, berichtete Claudia Becker kürzlich über ihre Forschungsergebnisse. Mehr als 70 Interessierte aus Deutschland, Luxemburg und der Schweiz waren zugeschaltet und von den Ausführungen Claudia Beckers stark beeindruckt.
„Gehörlose und schwerhörige Kinder sind besonders gefährdet, in der Entwicklung von Theory of Mind und Emotionswissen zurückzubleiben“ lautet ihre Kernaussage. Ohne die sprachlichen Möglichkeiten, eine Bandbreite an Gefühlen zu benennen, die über „lieb“ und „böse“ weit hinausgeht, können innerhalb der Familie keine differenzierten Gespräche über Emotionen erfolgen und die Kinder kein Emotionswissen erwerben. Diese Gefahr besteht für laut-und gebärdensprachlich orientierte Kinder gleichermaßen.
Unterhaltungen, Spiel- und Vorlesesituationen mit unterschiedlichen Personen als Sprachvorbilder wären für die Entwicklung hörbehinderter Kinder günstig – doch haben gerade schwerhörige und gehörlose Kinder aufgrund von Sprachbarrieren meist nur eine begrenzte Anzahl an Gesprächspartnern um sich. Im Vergleich zu hörenden Kindern fehlen ihnen darüber hinaus Rollenspielerfahrungen und sie können nicht in gleichem Maße von Hörbüchern und Filmen profitieren. Die so entstehenden Defizite in Theory of Mind und Emotionswissen können ihre soziale Teilhabe einschränken. Die gute Nachricht lautet jedoch: Beides lässt sich trainieren!
Für Elternhaus und Frühförderung gilt als wichtigste Empfehlung, regelmäßig Geschichten mit mentalen Inhalten vorzulesen, Emotionen zu benennen und mit den Kindern zu besprechen.
Im Rahmen der schulischen Bildung und Erziehung bauen die Kinder ihre sprachlichen Kompetenzen weiter aus und sollten nach Claudia Becker Anreize zum Aufholen sozial-kognitiver Entwicklungsschritte erhalten. Wie eine Studie belegt, gelingen Kindern im Alter zwischen sieben und zehn Jahren in diesem Bereich die größten Entwicklungssprünge (Audeoud, Becker 2019).
Sensibilisierung und Beratung von Lehrkräften sind aus diesem Grund ebenso wichtig wie die Bereitstellung einer strukturierten Materialsammlung, die es erlaubt, die Kinder auf ihren individuellen Entwicklungsstufen des Emotionswissens abzuholen und zu fördern. Claudia Becker verfolgt beide Ziele. Ihr dreijähriges Studienprojekt ProToM (Promoting deaf and hard of hearing children’s Theory of Mind and Emotion Understanding) mit Forschungspartnerinnen aus Griechenland, Zypern und der Schweiz steht unmittelbar vor dem Abschluss.
Als Ergebnis präsentiert sie vorab ihr Trainingsprogramm Die Gedankenleser mit Übungen und Unterrichtsmaterialien zu den Entwicklungsstufen der Theory of Mind und des Emotionswissens. Es gibt z.B. Aufklappgeschichten und Situationsbilder mit Personen und Gedankenblasen. Die Schülerinnen und Schüler sollen die „Gedanken lesen“ und die jeweiligen Emotionen, Wünsche oder versteckten Gefühle in den Gedankenblasen visualisieren. Sie lernen auf diese Weise, dass Gedanken von Menschen unterschiedlich sein und sogar einem Irrtum unterliegen können. Das Material wurde an sieben Schulen in den beteiligten Ländern mitentwickelt und erprobt und fördert parallel die notwendigen Laut- und/oder Gebärdensprachkompetenzen von Kindern im Bereich Emotionen. Die Gedankenleser besteht aus zehn Modulen und insgesamt mehr als 65 Übungen sowie einer Praxiskiste mit zusätzlichem Material für Lehrkräfte und Eltern (u.a. zahlreiche Gebärdenvideos). Alle Materialien und Informationen werden in Deutsch, Griechisch, Englisch, Französisch, Italienisch und den jeweiligen nationalen Gebärdensprachen angeboten.
Am 19. Juni 2021 findet die digitale Abschlusskonferenz zu dieser europäischen Studie statt. Das gesamte Trainingsprogramm „Die Gedankenleser“ steht danach kostenlos als Download zur Verfügung. (https://protom-education.com/trainingsprogramm/)
Die Teilnehmenden des Online-Vortrags waren von Claudias Beckers Ausführungen und der Verknüpfung von Theorie und Praxis in ihrer Arbeit mehr als überzeugt. Eine Lehrerin fasste zusammen, was viele empfanden: „Was für eine fantastische Fortbildung! Ganz vereinfacht heruntergebrochen kann man – wieder mal – zu dem Ergebnis kommen, dass Kinder für eine gute Entwicklung ganz viel Zeit, Zuwendung, Liebe, sprachliche Interaktion brauchen. Das Thema sollte mehr gesellschaftliche Relevanz haben.“
Die Gedankenleser – Das hochwertig gestaltete umfangreiche Material wird in Zukunft sicherlich viele schwerhörige und gehörlose Kinder bei der Entwicklung ihrer Theory of Mind unterstützen und begleiten.
Karin Perwo-Aßmann
Zur Person:
Prof. Dr. Claudia Becker ist Leiterin der Abteilung Gebärdensprach- und Audiopädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu ihren Forschungsgebieten gehören die bimodal-bilinguale Erziehung und Bildung hörbehinderter Kinder, inklusive Bildung mit Laut- und Gebärdensprache, Gebärdenspracherwerb und die sozial-kognitive Entwicklung bei schwerhörigen und gehörlosen Menschen.