Freude? Freude! Brüder? Schwestern! – Mit Beethoven ins neue Jahr

  • Bildschirmfoto (Symphoniker Hamburg)

Das traditionelle Silvesterkonzert der Symphoniker Hamburg findet immer in der Laeiszhalle statt. Gespielt wird immer Ludwig van Beethovens (1770-1827) bekannteste und gleichzeitig letzte Symphonie Nr. 9 mit dem Schlusschor über Schillers Gedicht „An die Freude“. Immer?

Auch 2020 wurde an der Tradition festgehalten, jedoch – coronabedingt – ohne Publikum und ohne Gesang. So kam im Beethovenjahr, zu Ehren seines 250. Geburtstages, eine außergewöhnliche Inszenierung am 31.12. als Onlinekonzert zur Aufführung:
„Eine Symphonie ohne Chor. In drei Sätzen und einer Aktion.“

Die ersten drei Sätze der Symphonie werden im Original gespielt. Der vierte Satz aber, der eigentlich Chor- und Solistengesang enthält („Freude, schöner Götterfunken“), verwandelt sich in eine „musikalisch-theatrale Aktion“ und wird durch den Einsatz von Gebärdensprache reflektiert.

„Sprecht lauter, schreit, denn ich bin taub!“  Schauspielerin Katharina Schumacher sowie drei Jugendliche aus der Elbschule, Julia, Liliana und Til, agieren ausdrucksstark mit Laut- und Gebärdensprache im Zuschauerraum.

Collage (privat)

Eine schlüssige Idee von Chefdirigent Sylvain Cambreling: Wenn auch der Gesang im Coronajahr verstummen muss, so muss es die Botschaft von Schillers „An die Freude“ noch lange nicht. Die Inszenierung von Christoph Marthaler und Joachim Rathke basiert auf diesem Originalgedicht sowie auf Beethovens „Heiligenstädter Testament“, in dem er mit 31 Jahren seine Verzweiflung über die fortschreitende Ertaubung und den nahegeglaubten Tod ausdrückte:

„Sprecht lauter, schreit, denn ich bin taub!“  Mit 47 Jahren begann Ludwig van Beethoven, mit schriftlichen Botschaften zu kommunizieren. In den letzten Jahren vor seinem Tod im 58. Lebensjahr war er vermutlich völlig taub. Auch beim Komponieren der 9. Symphonie konnte er sich nur auf sein inneres Ohr und die verinnerlichte Musikwelt verlassen. Drei Jahre vor seinem Tod wurde das Stück am 7. Mai 1824 uraufgeführt. Den tosenden Applaus konnte Beethoven nicht hören.

Das Konzertprojekt der Symphoniker Hamburg, aus der Not geboren, ist also aus einer naheliegenden Konzeptidee entstanden und verknüpft die Hintergründe von Beethovens Ertaubung mit der Inszenierung der Botschaft seiner 9. Symphonie mittels Laut- und Gebärdensprache.

 „Sprecht lauter, schreit, denn ich bin taub!“  Til (15), Julia und Liliana (beide 12) selbst profitieren nicht von einem „Lauter“ in der Kommunikation. Alle drei sind von Geburt an taub / schwerhörig und mit der Deutschen Gebärdensprache (DGS) als Muttersprache aufgewachsen. Sie wurden, gemeinsam mit ihren Eltern, von Daniel Kühnel, dem Intendanten der Symphoniker Hamburg, in einer Extraeinführung auf das Schicksal Ludwig van Beethovens und den musikalischen Kontext der 9. Symphonie vorbereitet.

Til zeigte sich fasziniert von Beethovens Leistungen und Erfolgen bei fortschreitender Ertaubung. Die Jugendlichen hatten sich mit Eifer und Neugier auf die Anfrage der Symphoniker (Intendanz) gemeldet. Alle fünf Termine sollten in den bevorstehenden Weihnachtsferien stattfinden. Die Aussicht auf ein Highlight in den Ferien reizte Julia ganz besonders. Auch Liliana hatte spontan Lust, bei dem Konzertprojekt mitzuwirken, weil es etwas ganz Neues für sie war.

Die Jugendlichen waren nie zuvor in der Laeiszhalle gewesen. Die Begeisterung und Freude, dort einmal über die Bühne zu gehen und die Notenblätter der Musiker anzuschauen, war ihnen anzumerken, berichtet Susanne Timmer (Assistenz des Intendanten). Sie ergänzt: „Die Kinder waren sehr aufgeschlossen für alles. Ihre Taubheit spielte schon nach kurzer Zeit in der Zusammenarbeit keine Rolle mehr.“ Gebärdensprachdolmetscherinnen sorgten für eine gelingende Kommunikation; Katharina Schumacher beherrscht die DGS sogar ebenfalls. Sie besitzt neben ihrem Diplom als Schauspielerin auch eines als Gebärdensprachdolmetscherin. Til, Julia und Liliana beobachteten interessiert das Zusammenspiel von Dirigent und Orchester sowie die Aufgaben von Regisseuren und Kamerateam.

Sylvain Cambreling äußert sich zufrieden über das Ergebnis des Projektes: „Es ist ein außerordentlich bewegendes Erlebnis für uns geworden, das uns dazu bringt, auf ganz neue Weise über weltumspannende Brüderlichkeit und über das Wesen der Freude nachzudenken.“

Auch das Publikum zu Hause reagierte positiv auf dieses ungewöhnliche Silvesterkonzert – statt tosendem Applaus ging eine Vielzahl an Rückmeldungen per Mail und Social Media ein. Ein Zuschauer aus Frankreich schrieb, was viele empfunden hatten: “Man sitzt beim Schauen mit Tränen in den Augen und Glück im Herzen.“ Die Botschaft der Inszenierung ist ganz offensichtlich angekommen.

Karin Perwo-Aßmann


Erleben Sie in diesem Video den besonderen 4. Satz der 9. Symphonie von Beethoven.
Der von Katharina Schumacher gesprochene Text ist hier nachzulesen.

Die Elbschule dankt den Symphonikern Hamburg für die freundliche Genehmigung der Veröffentlichung.

Die gesamte Silvesterkonzert ist in der Mediathek der Symphoniker Hamburg kostenfrei zugänglich: https://www.symphonikerhamburg.de/mediathek/mediathek-video/beethovens-9-symphonie-308/


Diesen Text finden Sie hier in DGS: